Sekundäre Darlegungslast des Arbeitnehmers im Kündigungsschutzprozeß

Über den Ausgang eines Kündigungsschutzprozesses entscheidet häufig die Darlegungs- und Beweislast. Im Kündigungsschutzprozeß muß daher jede Seite ihre Hausaufgaben machen. Der zielgenaue Sachvortrag macht oft den entscheidenden Unterschied zwischen Obsiegen und Unterliegen im Arbeitsgerichtsverfahren aus.

Die rechtliche Fragestellung

Eigentlich ist es ganz einfach: Der Arbeitgeber hat im Kündigungsschutzprozeß die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen des Kündigungsgrundes und grundsätzlich auch für das Nichtvorliegen von Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen auf Arbeitnehmerseite.
Relevant wird dies vor allem bei verhaltensbedingten Kündigungen und bei Kündigungen, die auf den Verdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzung gestützt werden.

Für Umstände, die das Verhalten des Arbeitnehmers rechtfertigen oder entschuldigen könnten, ist die Darlegungslast des Arbeitgebers allerdings abgestuft. Der Arbeitgeber darf sich zunächst darauf beschränken, das objektive Vorliegen einer Pflichtverletzung vorzutragen. Er muß nicht jeden erdenklichen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund vorbeugend ausschließen. Es ist vielmehr Sache des Arbeitnehmers, für solche Gründe – soweit sie sich nicht unmittelbar aufdrängen – zumindest greifbare Anhaltspunkte zu benennen (BAG, Urteil vom 16.07.2015 – 2 AZR 85/15, Rn. 40; BAG, Urteil vom 27.09.2022 – 2 AZR 508/21, AP Nr. 283 zu § 626 BGB, Rn. 17).

Allerdings kann den Arbeitnehmer schon beim Kündigungsgrund eine sekundäre Darlegungslast treffen. Dies insbesondere dann, wenn der Arbeitgeber außerhalb des fraglichen Geschehensablaufs steht, der Arbeitnehmer aber die wesentlichen Tatsachen kennt. Kommt der Arbeitnehmer in einer solchen Prozeßlage seiner sekundären Darlegungslast nicht nach, gilt das tatsächliche Vorbringen des Arbeitgebers – soweit es nicht völlig „aus der Luft gegriffen“ ist – im Sinne von § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden (BAG, Urteil vom 27.09.2022 – 2 AZR 508/21, AP Nr. 283 zu § 626 BGB, Rn. 18). Die Folge: der Arbeitnehmer kann den Kündigungsschutzprozeß verlieren.

Das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes vom 27.09.2022

In dem Urteil des Bundesarbeitsgerichtes vom 27.09.2022 (2 AZR 508/21, AP Nr. 283 zu § 626 BGB) führte die unzureichende Beachtung dieser Grundsätze zur Aufhebung des zweitinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht. Der zugrundeliegende Fall ist typisch für Bereiche, in denen Arbeitnehmer Zugang zu Bargeld haben. Sei es in der Gastronomie, sei es im Einzelhandel. Was war geschehen?

Der Arbeitnehmer war auf einem Flughafen in einem Gastronomiebetrieb beschäftigt. Er verkaufte Speisen und Getränke und arbeitete allein an einer Kasse. Dort mußte er sich mit einer Karte anmelden. Die Weitergabe der Karte an Kollegen war untersagt. Der Arbeitnehmer mußte jeden Verkauf erfassen. Eine Bonierung der verkauften Waren war bei geöffneter Kassenlade nicht möglich. Trinkgelder durften nicht in der Kasse aufbewahrt und nicht mit dem Umsatz und dem Wechselgeld vermischt werden.

Mitarbeiter des Arbeitgebers erhielten den Hinweis, daß die Kassenlade des Arbeitnehmers über einen längeren Zeitraum offenstand. Bei ihrem Eintreffen arbeitete der Arbeitnehmer an der Kaffeemaschine. Die Lade seiner Kasse war nach wie vor geöffnet. Seine Kassenkarte lag daneben. Daraufhin wurde eine Kassenkontrolle durchgeführt. Diese ergab eine positive Differenz zwischen dem Ist- und dem Soll-Bestand der Kasse in Höhe von 28,90 €.

Der Arbeitgeber hatte den Verdacht, der Arbeitnehmer habe die positive Differenz zwischen dem Ist- und dem Soll-Bestand der Kasse bis zur Kassenkontrolle in vollem Umfang absichtlich erzeugt. Der Arbeitnehmer habe von ihm getätigte Verkäufe bewußt nicht im Kassensystem erfaßt.

Der Arbeitgeber hörte den Arbeitnehmer zu dem Verdacht an. Der Arbeitnehmer stritt die Vorwürfe ab. Nach Anhörung des Betriebsrats kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich fristgemäß.

Im Kündigungsschutzprozeß wandte der Arbeitnehmer ein, er habe die Kasse nicht bewußt offengelassen. Ein Überschuß in der festgestellten Höhe könne sich leicht ergeben, z. B. durch versehentlich zu wenig herausgegebenes Wechselgeld oder den Erhalt eines Trinkgelds. Außerdem habe er an jenem Tag die Toilette aufgesucht und Wechselgeld geholt. Während solcher Pausen könne es vorkommen, daß er seine Karte liegenlasse und ein Kollege mit ihr an seiner Kasse arbeite.

Das Arbeitsgericht Frankfurt am Main (Urteil vom 25.05.2020 – 21 Ca 8122/19) hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht Hessen (Urteil vom 23.08.2021 – 7 Sa 1190/20, BeckRS 2021, 42407) hat die Berufung des Arbeitgebers zurückgewiesen. Das LAG hat gemeint, es könne nicht angenommen werden, daß der Arbeitnehmer die positive Kassendifferenz von 28,90 € im Verlauf seiner Schicht absichtlich aufgebaut habe.

Nach dem Revisionsurteil des Bundesarbeitsgerichtes hat das LAG die Anforderungen an die Darlegungen der Arbeitgeberin überspannt und zudem verkannt, daß zu Lasten des Arbeitnehmers eine sekundäre Darlegungslast eingreifen könnte. Zudem habe es seine Würdigung nicht auf das schlüssige und substantiierte Vorbringen der Parteien dazu beschränkt, wie sich der Kassenüberschuß ergeben haben könnte (BAG, Urteil vom 27.09.2022 – 2 AZR 508/21, AP Nr. 283 zu § 626 BGB, Rn. 16).

Die bisherigen Feststellungen trügen nicht die Annahme des LAG, die Arbeitgeberin habe mehr zu dem Vorgehen des Arbeitnehmers vortragen können. Insbesondere sei nicht ersichtlich, daß sie in zumutbarer Weise Vortrag dazu halten könnte, ob der Arbeitnehmer am 02.11.2019 tatsächlich mehr Verkäufe getätigt habe als boniert. Zugleich habe weder die Arbeitgeberin ihre Behauptung völlig „aus der Luft gegriffen“, noch drängten sich unmittelbar andere, „redliche“ Gründe für die Entstehung der Kassendifferenz auf (BAG, Urteil vom 27.09.2022 – 2 AZR 508/21, AP Nr. 283 zu § 626 BGB, Rn. 19).

Der Arbeitnehmer sei daher gehalten, im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast die ihm zumutbaren Angaben zu dem von ihm angenommenen, redlichen Zustandekommen des Kassenüberschusses zu machen. Das habe er allenfalls teilweise ausreichend getan (BAG, Urteil vom 27.09.2022 – 2 AZR 508/21, AP Nr. 283 zu § 626 BGB, Rn. 20).

Lediglich sein Vortrag, daß er es gerade auch für den 02.11.2019 für möglich erachte, bei Barverkäufen versehentlich zu wenig Wechselgeld an die Kunden herausgegeben zu haben, sei hinreichend. Eine weitere Festlegung könne von ihm insoweit nicht verlangt werden (BAG, Urteil vom 27.09.2022 – 2 AZR 508/21, AP Nr. 283 zu § 626 BGB, Rn. 22). Als nicht hinreichend wertete das Bundesarbeitsgericht hingegen den weiteren Vortrag des Arbeitnehmers.

Vor diesem Hintergrund hätte das LAG in seine Würdigung nach § 286 Abs. 1 ZPO, ob im Sinne einer „Tat“ oder doch eines dringenden Verdachts davon auszugehen sei, der Arbeitnehmer habe den Kassenüberschuß gezielt aufgebaut, allein die von diesem schlüssig und substantiiert dargestellte Alternative einbeziehen dürfen, die Differenz sei durch Wechselgeldfehler zu Lasten von Kunden entstanden (BAG, Urteil vom 27.09.2022 – 2 AZR 508/21, AP Nr. 283 zu § 626 BGB, Rn. 25).

Schlußfolgerungen für die Praxis

Der Fall zeigt: Kündigungsschutzprozesse werden mit zielgenauem Sachvortrag gewonnen. Dies gilt für Arbeitgeber wie für Arbeitnehmer.

Für Arbeitgeber beginnt die Agenda bereits im Vorfeld der Kündigung. Eine Kündigung wegen des Verdachts schwerwiegender Pflichtverletzungen hat spezifische Voraussetzungen. Insbesondere muß der Arbeitnehmer zu dem gegen ihn bestehenden Verdacht ordnungsgemäß angehört werden. Die professionelle Begleitung durch einen Fachanwalt für Arbeitsrecht hilft dabei, kostenträchtige Fehler zu vermeiden.

Für Arbeitnehmer gilt: Werden sie mit dem Vorwurf einer schwerwiegenden Pflichtverletzung konfrontiert, kann eine frühzeitige Stellungnahme bestehende Verdachtsmomente ausräumen helfen. Mitunter kann es aber auch besser sein, zu bestimmten Vorwürfen zu schweigen. Denn niemand muß sich selbst belasten. Die Abwägung ist oft schwierig. Auch hier ist eine frühzeitige professionelle Begleitung durch einen Fachanwalt für Arbeitsrecht ratsam.

Im Kündigungsschutzprozeß ist es Sache des Arbeitgebers, die Voraussetzungen der Kündigung darzulegen und zu beweisen. Hierzu gehören bei einer Verdachtskündigung die objektiven Verdachtsumstände und die Einhaltung des Anhörungsverfahrens. Hier zeigt sich, ob die Kündigung ordnungsgemäß vorbereitet wurde. Das Ziel sollte hier immer sein, die sekundäre Darlegungslast des Arbeitnehmers auszulösen und etwaige substantiierte Einwände zu widerlegen.

Das Urteil des BAG zeigt aber auch: Oft trägt die Arbeitnehmerseite nicht hinreichend substantiiert vor. Hierin liegt eine Chance für den Arbeitgeber.

Und: Arbeitgeber brauchen mitunter einen langen Atem, um ihre Interessen durchzusetzen. Im Ausgangsfall haben zwei Instanzen gegen den Arbeitgeber entschieden. Erst das BAG erkannte, daß in den Tatsacheninstanzen die Anforderungen an den Sachvortrag des Arbeitgebers überspannt wurden. Gewonnen ist der Rechtsstreit für den Arbeitgeber damit aber immer noch nicht. Das nächste Wort hat nach der Zurückverweisung wieder das LAG.

Arbeitnehmer wiederum können sich nicht immer darauf verlassen, daß bloßes Bestreiten des Arbeitgebervortrages schon zum Ziel führt. Im Gegenteil: Im Rahmen der sekundären Darlegungslast kann spezifischer Vortrag gefordert sein. Auch hierbei hilft die Begleitung durch einen Fachanwalt für Arbeitsrecht.

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