Die Diskussion um das Recht des Arbeitnehmers auf Unerreichbarkeit in der Freizeit erhält neue Impulse.
Das Bundesarbeitsgericht hat ein Urteil des Landesarbeitsgerichtes Schleswig-Holstein aufgehoben, welches diesbezüglich weitreichende Schlußfolgerungen zuließ (hierzu mein Blog-Beitrag vom 16. Mai 2023). Nach Ansicht des LAG Schleswig-Holstein sollte keine Pflicht des Arbeitnehmers bestehen, sich in seiner Freizeit nach Dienstplanänderungen zu erkundigen oder Dienstplanänderungen zur Kenntnis zu nehmen.
Nach Aufhebung dieser Berufungsentscheidung durch das BAG ist eine differenzierte Sichtweise auf die Problematik erforderlich. Das BAG hat eine Pflicht des Arbeitnehmers, sich in seiner Freizeit nach Dienstplanänderungen zu erkundigen oder Dienstplanänderungen zur Kenntnis zu nehmen, nur unter besonderen Voraussetzungen angenommen.
Ausgangsfall
Ein Notfallsanitäter ist bei einem Betreiber mehrerer Rettungswachen beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet neben dem TVöD-VkA eine Betriebsvereinbarung über Arbeitszeitgrundsätze (BVA) Anwendung.
Die BVA sieht zur Sicherung der Einsatzbereitschaft in allen Rettungswachen vor, daß der Arbeitgeber in den Dienstplänen auch unkonkret zugeteilte Springerdienste anordnen kann. Der Arbeitgeber hat unkonkret zugeteilte Springerdienste bei Tag- und Spätdiensten bis 20 Uhr des Vortages vor Dienstbeginn hinsichtlich Arbeitszeit und Arbeitsort zu konkretisieren. Erfolgt keine solche Konkretisierung, hat sich der Arbeitnehmer zur im Dienstplan festgesetzten Zeit in der dort vorgesehenen Rettungswache einzufinden.
Im Streitfall geht es um die Konkretisierung unkonkret zugeteilter Springerdienste für zwei Tage im Jahr 2021. Der Arbeitgeber hatte jeweils kurz vor Ablauf der Fristen nach der BVA die Springerdienste des Rettungssanitäters konkretisiert. Er legte dabei einmal sowohl einen früheren Arbeitsbeginn als auch einen anderen Arbeitsort, ein anderes Mal lediglich einen anderen Arbeitsort fest als ursprünglich im Dienstplan vorgesehen. In beiden Fällen erfolgte die Dienstplanänderung außerhalb der Arbeitszeit des Rettungssanitäters für den jeweils nächsten von ihm zu leistenden Dienst.
Der Rettungssanitäter hatte die Möglichkeit, den aktuellen Dienstplan über das Internet einzusehen. Diese Möglichkeit nutzte er nicht. Der Arbeitgeber versuchte vergeblich, den Rettungssanitäter telefonisch über die Dienstplanänderungen in Kenntnis zu setzen und entsprechend zur Arbeit aufzufordern. Auch eine SMS über die Dienstplanänderung nahm er erst zum ursprünglich vorgesehenen Dienstbeginn am Folgetag zur Kenntnis.
Der Arbeitgeber schrieb dem Rettungssanitäter die entsprechend nicht geleisteten Arbeitszeiten nicht auf dem Arbeitszeitkonto gut und mahnte ihn ab. Hiergegen wendet sich der Rettungssanitäter mit seiner Klage.
Urteil des BAG vom 23. August 2023 (5 AZR 349/22)
Das Arbeitsgericht Elmshorn hat in erster Instanz die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Januar 2022 – 5 Ca 1023 a/21, BeckRS 2022, 30090). Das LAG Schleswig-Holstein (Urteil vom 27. September 2022 – 1 Sa 39 öD/22, NZA-RR 2022, 624) hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des ArbG Elmshorn abgeändert und den Arbeitgeber verurteilt, für die fraglichen Tage dem Kläger Arbeitsstunden auf dem Arbeitszeitkonto gutzuschreiben und die Abmahnung aus der Personalakte zu entfernen. Das BAG (Urteil vom 23. August 2023 – 5 AZR 349/22, BeckRS 2023, 34698) hat auf die Revision des Arbeitgebers das Urteil des LAG aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen Urteil des ArbG zurückgewiesen. Die Klage sei insgesamt unbegründet.
Ein Anspruch des Klägers auf Zeitgutschrift auf dem für ihn geführten Arbeitszeitkonto folge nicht aus §§ 615 Satz 1, 611a Abs. 2 i. V. m. §§ 293 ff. BGB i. V. m. der BVA. Der Arbeitgeber habe sich an diesem Tag nicht im Annahmeverzug befunden.
Der Kläger habe an den fraglichen Tagen die geschuldete Arbeitsleistung nicht tatsächlich am rechten Ort, zur rechten Zeit und in der rechten Art und Weise angeboten. Erforderlich wäre ein tatsächliches Angebot der Arbeitsleistung auf der von dem Arbeitgeber bestimmten Rettungswache zu der vom Arbeitgeber bestimmten Zeit gewesen, weil er den Dienst des Klägers nach der BVA wirksam dahingehend konkretisiert und ihm jeweils eine entsprechende Weisung erteilt habe.
Die Wirksamkeit der BVA begegne keinen Bedenken. Diese werde nicht von der Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG erfaßt. Diese greife nicht ein, soweit es um Angelegenheiten gehe, die nach § 87 Abs. 1 BetrVG der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats unterlägen. Es sei weder vorgetragen noch ersichtlich, daß der Betrieb des Arbeitgebers von dem betrieblichen Geltungsbereich des TVöD-VkA erfaßt sei. Der Tarifvertrag finde nach den Feststellungen des LAG kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme Anwendung. Im übrigen regele die BVA Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit sowie Grundsätze der Verteilung der Arbeitszeit auf die einzelnen Wochentage und damit Angelegenheiten, die nach § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG der erzwingbaren Mitbestimmung des Betriebsrats unterlägen. Eine entgegenstehende tarifvertragliche Regelung i. S. v. § 87 Eingangshalbsatz. BetrVG bestehe nicht.
Der Arbeitgeber habe auf der Grundlage der BVA den für den Kläger an den fraglichen Tagen im Dienstplan vorgesehenen sog. unkonkret zugeteilten Springerdienst wirksam konkretisiert. An die erteilte Weisung in Ausübung des Direktionsrechts des Arbeitgebers nach § 106 S. 1 GewO sei der Kläger gebunden gewesen. Der Arbeitgeber habe nach der BVA den Dienst jeweils wirksam innerhalb des Zeitfensters bis 20:00 Uhr des Vortags vor Dienstbeginn weiter konkretisiert.
Der Kläger könne sich nicht darauf berufen, von der wirksamen Konkretisierung des Dienstes keine Kenntnis gehabt zu haben. Die Weisung sei dem Kläger jeweils zugegangen. Für den Kläger habe eine Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis bestanden, die Zuteilung des Dienstes zur Kenntnis zu nehmen. Es handele sich um eine mit der Arbeitspflicht in unmittelbarem Zusammenhang stehende Nebenleistungspflicht, der der Kläger als Folge der Regelung in der BVA unterliege. Dieser Pflicht habe er auch außerhalb seiner eigentlichen Dienstzeit als Notfallsanitäter nachzukommen.
Im Arbeitsverhältnis könnten die Vertragsparteien zur Verwirklichung des Leistungsinteresses zu leistungssichernden Maßnahmen verpflichtet sein. Die leistungssichernde Nebenpflicht, Kenntnis von der Zuteilung von konkretisierten Tag- und Spätdiensten zu nehmen, komme im Streitfall in der Regelung der BVA zum Ausdruck. Danach könne der unkonkret zugeteilte Springerdienst für den Tag- und Spätdienst noch bis 20:00 Uhr des Vortags vor Dienstbeginn im Dienstplan weiter konkretisiert werden. Dies beinhalte zugleich, daß der jeweils betroffene Arbeitnehmer spätestens ab diesem Zeitpunkt damit rechnen müsse, für den folgenden Dienstbeginn einer konkretisierten Weisung zu unterliegen. Daraus folge die Pflicht, Mitteilungen von Seiten des Arbeitgebers zur Kenntnis zu nehmen. Ohne Erfüllung dieser Nebenpflicht könne der Arbeitnehmer den angestrebten Leistungserfolg, nämlich den Dienstantritt wie zugewiesen, dem Arbeitgeber nicht zukommen lassen.
Entgegen der Auffassung des Klägers habe dieser im Rahmen der geschuldeten Mitwirkungspflicht nicht ununterbrochen für den Arbeitgeber erreichbar sein gemußt. Es sei ihm überlassen geblieben, wann und wo er von der SMS Kenntnis nehmen wollte, mit der ihn der Arbeitgeber über die Konkretisierung seines Springerdienstes informiert habe. Da der Arbeitgeber die Konkretisierung des Dienstbeginns und Dienstortes bis 20:00 Uhr vornehmen konnte, sei es ausreichend gewesen, daß der Kläger sich ab dieser Zeit informierte. Aufgrund der Zuteilung eines unkonkreten Tagdienstes in dem ihm bekannten Dienstplan sei er bereits informiert gewesen, daß der späteste Dienstbeginn zwischen 06:00 Uhr und 09:00 Uhr liegen würde.
Die Erfüllung dieser leistungssichernden Nebenpflicht führt nicht zu einer Kollision mit den Regelungen des Arbeitszeitgesetzes und der EU-Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG. Bei der Kenntnisnahme der Weisung zum konkretisierten Dienst handelt es sich nicht um Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinn.
Im Streitfall würden durch die Nebenpflicht zur Kenntnisnahme der Konkretisierung des Dienstes die Möglichkeiten des Klägers, seine Freizeit frei zu gestalten, nicht erheblich im beeinträchtigt. Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne liege daher nicht vor. Die Ruhezeit werde durch die Kenntnisnahme nicht unterbrochen. Der Kläger könne frei wählen, zu welchem Zeitpunkt er die Weisung zur Kenntnis nehme. Der eigentliche Moment der Kenntnisnahme der SMS stelle sich als zeitlich derart geringfügig dar, daß auch insoweit von einer erheblichen Beeinträchtigung der Nutzung der freien Zeit nicht ausgegangen werden könne. Auch der Europäische Gerichtshof habe in seiner Rechtsprechung zur Rufbereitschaft nicht thematisiert, daß der „Ruf“ zur Arbeitsleistung Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie sei.
Der Kläger habe auch keinen Anspruch auf Entfernung der Abmahnung aus der Personalakte. Der Kläger habe seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt, indem er es unterlassen habe, die Weisungen des Arbeitgebers zur Aufnahme der Dienste an den fraglichen Tagen im Jahr 2021 zur Kenntnis zu nehmen und entsprechend die zugeteilten Dienste anzutreten. Der Arbeitgeber sei deshalb berechtigt, ihn mit der Abmahnung auf seine Pflichtverletzung hinzuweisen, ihn für die Zukunft zu einem vertragsgetreuen Verhalten aufzufordern und ihm für den Wiederholungsfall individualrechtliche Konsequenzen anzukündigen.
Schlußfolgerungen für die Praxis
In rechtlicher Hinsicht steht es Arbeitnehmern auch nach dem Urteil des BAG grundsätzlich frei, Anrufe, SMS und E-Mails Ihres Arbeitgebers in der Freizeit nicht zur Kenntnis zu nehmen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Arbeitszeiten bereits verbindlich feststehen.
Doch Vorsicht! Kein Grundsatz ohne Ausnahme:
Sehen rechtswirksame Regelungen in Arbeitsverträgen, Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträgen vor, daß der Arbeitgeber Weisungen zur Arbeitsaufnahme im Rahmen des Direktionsrechts außerhalb der Arbeitszeit erteilen darf, sind Arbeitnehmer verpflichtet, diese Weisungen auch in ihrer Freizeit zur Kenntnis zu nehmen.
Verstöße gegen diese Pflicht können abgemahnt werden und im Wiederholungsfall bis zu einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses führen.
Die Kenntnisnahme einer danach zulässigen Weisung in der Freizeit stellt keine Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne dar. Sie unterbricht insbesondere nicht die elfstündige Ruhezeit nach § 5 Arbeitszeitgesetz. Die Kenntnisnahme dürfte erst recht keine Arbeitszeit im vergütungsrechtlichen Sinne darstellen.
Bei Bedarf sollten sich Arbeitgeber daher um wirksame arbeitsvertragliche oder kollektivvertragliche Regelungen bemühen, nach denen sie Weisungen zur Arbeitsaufnahme im Rahmen des Direktionsrechts auch außerhalb der Arbeitszeit erteilen dürfen. Denn nur dann sind Arbeitnehmer verpflichtet, diese Weisungen auch in ihrer Freizeit zur Kenntnis zu nehmen.
Fehlen solche Regelungen, bleiben Änderungen des Dienstplanes während der Freizeit oder des Urlaubs des Arbeitnehmers für den Arbeitgeber risikobehaftet. Es ist dann nicht sichergestellt, daß sie zur Kenntnis genommen und befolgt werden. Soweit möglich, sollten daher Arbeitgeber Arbeitszeit und Arbeitsort für den nächsten Arbeitstag dem Arbeitnehmer spätestens während dessen Arbeitszeit am vorangegangenen Arbeitstag mitteilen.
Beratung, die weiterführt
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